Der Magdeburger Autor Domenico Müllensiefen war schon Telekom-Techniker, Bauleiter und Bestatter. Inzwischen hat er seinen zweiten Roman veröffentlicht, arbeitet am Drehbuch für den ersten und war Gastdozent an einer Universität in den USA. Ein Gespräch über das Leben zwischen Handwerk und Universität, den Einstieg in die Literatur – und was Erfolg eigentlich bedeutet.

Mit dem Schreiben fing Domenico Müllensiefen schon in der Schulzeit an. Dass er einmal davon leben könnte, hat er selbst jedoch wohl am allerwenigsten erwartet: Sein erster Roman „Aus unseren Feuern“ von 2022 war direkt ein Bestseller. Im August 2024 folgte „Schnall dich an, es geht los“. Dorthin führte ihn ein bunter Lebensweg: Nach dem Realschulabschluss und der Ausbildung zum Systemelektroniker in Magdeburg arbeitete er zunächst in Leipzig. 2010 bewarb er sich zum ersten Mal am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig, nach dem zweiten Versuch wurde er 2011 angenommen. 2016 schloss er das Studium mit einem Master im Fach Literarisches Schreiben ab. Sein Leben heute: Auszeichnungen, Einladungen als Gastdozent, Auftritte auf den Buchmessen in Leipzig und Frankfurt.

Wie sind Sie zum Schreiben gekommen?

Domenico Müllensiefen: Da gab es drei entscheidende Momente. Angefangen hat es in der neunten oder zehnten Klasse, da habe ich viel nebenbei geschrieben. Jahre später fragte mich dann mein Großvater: ,Warum schreibst du eigentlich nicht mehr?‘ Ich war Anfang 20 und hatte ganz andere Dinge im Kopf, aber dass er sich daran erinnert hat, das ist mir immer im Gedächtnis geblieben. Kurz nach diesem Gespräch hatte ich einen Job in Leipzig, bei dem es nichts zu tun gab. In der Zeit, die ich da absaß, habe ich wieder geschrieben. Und dann ist meine allererste Beziehung in die Brüche gegangen. Da habe ich geschrieben, um mich abzulenken, eine Art literarisches Tagebuch mit viel Fiktion. Irgendwann war es normal, dass ich von der Arbeit nach Hause kam und erst einmal eine Stunde an literarischen Texten gearbeitet habe. Es war mir gar nicht bewusst, aber Schreiben war für mich Selbsttherapie.

Wann haben Sie sich entschieden, daraus einen Beruf zu machen?

Ich habe nie einen Moment gehabt, in dem ich gesagt habe, ich muss Schriftsteller werden. Ich habe den Autor Steffen Mohr kennengelernt; er hat mir gesagt, ich solle unbedingt am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig Literarisches Schreiben studieren. Da war der Wunsch zumindest da, mehr daraus zu machen. Das hat übrigens auch in meinem Elternhaus große Konflikte ausgelöst: Ich hatte meine Ausbildung abgeschlossen, stand endlich in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis, meine Zukunft war einigermaßen gesichert. Und dann entschied ich mich, Literatur zu studieren. Ich wusste: Ich wollte mein Leben nicht an einer Lohnarbeit ausrichten, die mir eigentlich nichts bedeutet. Die persönliche Entwicklung war mir wichtiger. Die konkrete Entscheidung kam in diesem Jahr. Ich hatte eine Zeit lang zwei Einnahmequellen, als Bauleiter und als Schriftsteller, und dieses Jahr habe ich beschlossen, es tatsächlich zu versuchen. Ich bin meinem jüngeren Ich dankbar für den Mut, eine Festanstellung zu kündigen, um Literatur zu studieren.

Sie sind ausgebildeter Systemelektroniker, haben auf dem Bau und als Bestatter gearbeitet. Sie haben aber auch einen Masterabschluss vom Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Wie fühlt sich das Leben zwischen akademischem und proletarischen Umfeld an?

Ich fühle mich in beiden Welten zu Hause und doch auch wieder völlig fremd – im proletarischen Umfeld wie im akademischen. Wenn ich im akademischen Umfeld unterwegs bin, kommt ab und zu die Demut hoch: Wo ist eigentlich der Handwerker in mir hin? Und wenn ich im proletarischen Umfeld unterwegs war, hatte ich oft das Gefühl: Ich kann mehr. Man könnte das jetzt so verstehen, als hielte ich mich für etwas Besseres. Aber das bin ich nicht. Das habe ich mir auch immer wieder klargemacht: Wenn ich etwas Besseres wäre, wäre ich vielleicht gar nicht so weit gekommen. Und ich möchte mir auch nicht anmaßen, in Kategorien wie ,besser´ oder ,wertvoller‘ zu denken. Die gibt es nicht. Es gibt harte Arbeit, die muss gemacht werden, und die ist wichtig.

Sowohl Ihr erster Roman „Aus unseren Feuern“ als auch Ihr neues Werk „Schnall dich an, es geht los“ erfreuen sich bester Kritiken, Sie haben mehrere Auszeichnungen gewonnen. Was bedeutet dieser Erfolg für Sie und wie gehen Sie damit um?

Ich genieße den Erfolg, bin ihm gegenüber aber auch sehr demütig. Vor ein, zwei Jahren war ich bei einer Veranstaltung im Literaturinstitut. Dort gibt es gläserne Vitrinen, in denen all die Bücher stehen, die die Studierenden des Instituts veröffentlicht haben. Die habe ich als Student mit neidischer Attitüde verachtet. Und dann stand ich wieder vor dieser einen Vitrine und sah mein Buch, und dann habe ich geweint. Ich habe gedacht: Jetzt gehörst du dazu, jetzt bist du in diesem Schrank eingesperrt – jetzt müsste das zweite daneben stehen. Es hat lange gedauert, bis ich einen Verlag gefunden habe. Es war gar nicht so leicht, Gehör zu finden. Und dann hatte ich Anfang 2023 auf einmal alle meine Ziele erreicht – das war auch eine merkwürdige Situation. Ich hatte meinen ersten Roman draußen, ich wusste, eine Verfilmung ist in Planung, das Ding kommt auf die Theaterbühne, ich hatte Preise gewonnen – das war merkwürdig. Man wünscht es sich, man arbeitet darauf hin, aber man rechnet nicht damit. Ich lebe gerade mein Wunschleben. Wenn es richtig gut läuft, kann ich so für den Rest meines Lebens mein Geld verdienen. Und wenn es irgendwann nicht mehr so ist, dann wünsche ich mir, und das erwarte ich auch von mir, dass es dann für mich okay ist.

„Schnall dich an, es geht los“ ist im August 2024 erschienen. Wie hat sich Ihr Schreibprozess im Vergleich zu Ihrem ersten Roman verändert? Inwiefern hat Sie der Erfolg Ihres Erstlings dabei beeinflusst?

Der Schreibprozess an sich hat sich grundlegend geändert und ist doch gleich geblieben. Bei meinem zweiten Roman wusste ich sofort: Das Ding wird gedruckt. Das ändert einiges im Kopf. Ich habe mich entschieden, meine Lohnarbeit aufzugeben und einen Arbeitsraum zu mieten. Ich habe viel früher mit meinem Verleger gesprochen, der auch mein Lektor ist. Aber ich habe mich auch gefragt: ,Kann ich die Qualität meines ersten Romans nochmal erreichen, schaffe ich das überhaupt?‘ Und dann dachte ich mir: ,Wieso sollte ich mich damit beschäftigen?‘ Ich habe ,Aus unseren Feuern‘ nicht geschrieben, weil ich Preise gewinnen oder nach Amerika kommen wollte. Ich habe es geschrieben, weil ich eine Geschichte erzählen wollte. Diese Motivation habe ich versucht, aufrecht zu erhalten.

Ostdeutschland spielt in Ihren Romanen eine zentrale Rolle. Welchen Einfluss haben Ihre Biografie und Ihre Erfahrungen als Ostdeutscher auf Ihr Schreiben?

Es ist wichtig für mich, dass ich über die Dinge schreibe, die ich erlebt und gesehen habe. Ich habe das große Glück, als Handwerker und als Bestatter gearbeitet zu haben. Ich war in tausenden Wohnungen, wo ich Menschen in allen Situationen erlebt habe. Wenn man sich als Schriftsteller bei Leuten ankündigt, dann räumen sie auf, bereiten Kaffee und Kuchen vor und überlegen sich, was sie sagen wollen. Wenn ich aber als Handwerker irgendwo auftauche, erzählen mir die Menschen alles. Ich bin meiner Heimat dafür sehr dankbar. Wenn wir von Ostdeutschland sprechen, geht es um die Einsamkeit in Brandenburg, um die Schönheit Mecklenburg-Vorpommerns, um die Schrulligkeit der Sachsen, aber von Sachsen-Anhalt spricht niemand. Ich glaube: Es ist besprechenswert. Es ist lohnenswert, sich das alles anzugucken und sich mit den Leuten zu unterhalten. Das ist auch mir persönlich wichtig: Ich bin immer erstmal bereit, zuzuhören und mich dabei zurückzunehmen.

Sie waren im Oktober auf der Frankfurter Buchmesse zu Gast. Wie haben Sie die Buchmesse erlebt?

Es war schön und aufregend. Man huscht von Stand zu Stand, trifft einen Haufen Leute, manchmal weiß man gar nicht, wen man vor sich hat. Aber Frankfurt ist auch für mich persönlich ein aufwühlender Ort: Ich hatte 2010 dort eine lange Baustelle. Ich bin montags um drei Uhr morgens aufgestanden, habe um vier den ersten Kollegen abgeholt, um fünf den letzten, um acht oder um neun Uhr morgens waren wir in Frankfurt. Wir haben immer dieselben Leute getroffen, standen zusammen an den Tankstellen oder im Stau, und die waren alle genauso fertig wie wir. Das war das Jahr, in dem ich unbedingt am Literaturinstitut studieren wollte und nicht angenommen wurde. Und jetzt fahre ich in dieselbe Stadt, mit einem ICE, habe einen kleinen Koffer dabei, trage gute Kleidung. Ich setze mich in ein Taxi oder eine Straßenbahn, werde vielleicht sogar abgeholt. Auf einmal bin ich Herr Müllensiefen und nicht der Typ, der drei Meter weiter Kabel verlegt und für alle um sich herum unsichtbar ist. Dass das alles von einer Person durchlebt werden kann, würde mir schwerfallen zu glauben, hätte ich es nicht selbst erlebt.

Sie leiten auch immer wieder Workshops und andere Unterrichtsformate zum Thema kreatives Schreiben. Was wollen Sie vermitteln?

Lust am Schreiben. Motivation. Egal, ob mir junge oder alte Menschen gegenübersitzen: Ich möchte, dass sie an sich und ihre Texte glauben. Gerade erst hatte ich im Literaturhaus Magdeburg eine interessante Situation. Auf die Frage, ob sie lesen, haben sich nur zwei von fast 30 Kindern gemeldet. Das mag ernüchternd klingen, aber ich sage: Die anderen konsumieren auch erzählerische Inhalte, sie tun es nur in anderen Medien. Sie gucken sich Filme an, zocken Computerspiele, hören Hörspiele oder Podcasts. Und darauf muss man sich einlassen. Am Ende ist es für mich gar nicht so entscheidend, dass sie literarisch arbeiten, sondern dass sie Lust haben, ihre eigenen Geschichten zu erzählen. Ich will nicht bewerten, welche Medien sie konsumieren, sondern ich möchte Lust am Erzählen entfachen – in welchem Medium auch immer das stattfinden mag.

Was steht in den kommenden Monaten bei Ihnen an? Entwickeln Sie schon eine neue Romanidee oder konzentrieren Sie sich erst einmal auf etwas ganz anderes?

Ich arbeite an einer Idee, habe aktuell etwa zwölf Seiten. Gleichzeitig arbeite ich an der Verfilmung von ,Aus unseren Feuern‘, mit viel Glück wird daraus auch eine Serie. Ich bin nächstes Jahr Dozent an der Bayerischen Akademie des Schreibens. Es passieren gerade ganz viele Sachen gleichzeitig. Die letzten Wochen war ich nur drei, vier Nächte zu Hause. Ich genieße es gerade sehr, unterwegs zu sein, aber ich genieße es auch, zwischendurch einfach auf dem Sofa rumzuhängen.

Was möchten Sie angehenden Literaturschaffenden und Kreativen mitgeben?

Es ist ganz wichtig, dass man sich nicht von Angst und von Angstmachern einwickeln lässt. Es ist bei Weitem nicht so schlimm auf der Welt, wie uns das manche Menschen erzählen wollen. Aber es gibt auch viel, was noch besser gemacht werden kann. Dafür brauchen wir Menschen, die Energie haben. Ich habe zum Beispiel großen Respekt vor allen, die in der kommunalen Politik tätig sind. Ich wünsche mir, dass es etwas mehr Verständnis gibt und dass Menschen an der Gesellschaft teilhaben, dass wir einander in die Augen schauen und Meinungen aushalten, die anders sind als unsere eigenen.

Foto: Susanne Schleyer